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Martinstag

Der Sankt-Martins-Tag

Laternenumzug und Martinsfeuer

 Illustration Artur beim Martinsumzug
In der Ferne sah ich einen Lichtschein, der noch viel, viel stärker war als der unserer Laternen - das Martinsfeuer!

 

 

Gestern war der 11. November, und ich war bei meinem ersten Martinsumzug!

 

Die ganze Woche hatte ich an meiner Laterne gebastelt. Aber ausprobiert habe ich sie erst am Abend von Sankt Martin. Als es draußen gerade dunkel wurde, hat meine Mama eine schmale Kerze aus dem kleinen Schränkchen geholt, in dem so lauter tolle Sachen wie Geschenkpapiere, Schleifen, Räucherstäbchen und kleine Geschenke liegen. Sie hat die Kerze angezündet und vorsichtig ein wenig flüssiges Wachs auf den Boden meiner Laterne tropfen lassen. Dann hat sie ganz schnell die Kerze draufgedrückt und gut festgehalten, bis das Wachs kalt und hart war und die Kerze nicht mehr umkippen konnte.

 

 

Sofort habe ich meinen neuen roten Schal umgebunden, den ich zum Geburtstag bekommen habe. Handschuhe und Mütze brauchte man ja nicht, so warm, wie es in diesem Jahr ist. Dann habe ich meine Laterne in die eine und meine Mama an die andere Hand genommen - und los ging's in Richtung Rathausplatz, wo sich die Kinder zum Laternenumzug treffen wollten. Inzwischen war es auch richtig dunkel und endlich, endlich zündeten wir die Kerze in meiner Laterne an! Wie die Farben plötzlich leuchteten! Wie die Bilder, die ich auf meine Laterne gemalt habe, plötzlich lebendig wurden! Jetzt nur aufpassen, dass meiner Laterne nichts geschieht!

 

 

Ich war so von dem Flackern meiner Laternenbilder in den Bann gezogen, dass ich richtig ein bisschen erschrak, als die Kinder um mich herum plötzlich zu rufen begannen: "Der Martin ist da! Der Martin ist da!" Und da war er tatsächlich, weit oben auf einem riesigen dunkelbraunen Pferd! Und einen richtigen Soldatenhelm hatte er auf dem Kopf mit einem lustigen roten Büschel oben drauf! Jetzt hörte ich auch, wie die Hufen des Pferdes auf dem Asphalt klapperten. Und dann kamen sie ganz dicht an uns vorbei und ich roch den süßen warmen Duft des Pferdes, sah, wie sich die Lichter unserer Laternen in der blitzeblank geputzten Rüstung des Heiligen Martins spiegelten, sah das Schwert an seiner Seite, das ich so gerne mal in die Hand genommen hätte. Doch kurz darauf waren sie schon an uns vorbei und liefen in Richtung Park, wir Kinder mit unseren Laternen hinterher und ganz am Ende die Mamis und Papis, Omas und Opas.

 

 

Während wir liefen, sangen wir viele Lieder. Die meisten kannte ich aus unserem Liederbuch. Naja, zumindest die ersten Strophen. Aber zur Not geht ja auch Mitsummen oder la-la. Meine Laterne, die an einem langen Stab hing, schwankte beim Gehen hin und her. Ich hatte ein bisschen Angst, dass die Kerze umkippen könnte. Aber zum Glück ging alles gut. Als wir in den Park kamen, gab es kaum noch Straßenbeleuchtung und wir sahen mit unseren Laternen aus wie ein Schwarm von Glühwürmchen. Das trockene Herbstlaub raschelte unter unseren Füßen, und die Bäume schienen in der Dunkelheit ihre Äste wie lange Arme nach uns auszustrecken. Auf einmal ein Knallen und Schlagen irgendwo hoch über uns! Einige Kinder kreischten vor Schreck und Aufregung, andere fingen an zu lachen und sich über die Angsthasen lustigzumachen. Jetzt sah ich auch die zwei Tauben, die wir aufgeschreckt haben, wie sie fortflogen, um sich einen anderen Schlafplatz zu suchen.

 

 

Ich dachte noch darüber nach, wie wohl ein Schlafplatz aussehen mag, den eine Taube so richtig gemütlich findet, als ich in der Ferne einen Lichtschein sah, der viel, viel stärker war als der unserer Laternen. Das Martinsfeuer! Mit jedem Schritt, den wir näher kamen, wurde es größer und größer. Jetzt hörte man auch das Holz knacken. Es roch nach Lagerfeuer, die Funken stoben durch die Nacht und beim Näherkommen sah man, wie in den Flammen und den glühenden Holzstämmen kleine Figuren tanzten. Natürlich sind die nicht echt! Aber es sieht so aus.

 

 

Neben dem Feuer stand das Pferd und schnaubte, bevor es seinen Kopf senkte und sich über die Grasbüschel am Wegesrand hermachte. Auf seinem Rücken der Martin gab ihm noch etwas Zügel und begann zu erzählen.

 

 

Er erzählte, wie es war in seiner Zeit, so etwa um 310 bis 320, als er in einer Stadt aufwuchs, die heute Szombathely heißt und in Ungarn liegt, damals jedoch zum Römischen Kaiserreich gehörte und den Namen Savaria trug. Und der Martin wurde natürlich auch nicht als der "Heilige Martin" geboren, sondern als einfach nur als Martinus. Sein Papa war wohl ein hohes Tier beim Militär. Und obwohl Martinus das eigentlich nicht wollte, wurde er schon früh auf eine Militärschule geschickt. Er war erst 15 Jahre, als er in die Leibwache des Kaisers Konstantin II. aufgenommen wurde.

 

 

Es war ein knackekalter Winter, Martinus war gerade 17 Jahre und im Norden Frankreichs stationiert. Eines Tages ritt er auf seinem Pferd durch die Gassen der Stadt und sah einen Bettler am Wegesrand sitzen, mit nichts bekleidet als mit einer dünnen zerschlissenen Hose und den Resten eines alten Hemdes, das mehr aus Löchern als aus Stoff zu bestehen schien. "Bitte helft mir, edler Herr!", bat der Bettler, "Sonst ist der Frost mein sicherer Tod." Martin hatte selbst nichts bei sich als sein Pferd, die Rüstung, einen Mantel und sein Schwert. Also zog er kurzerhand das Schwert aus der Scheide, griff sich einen Zipfel seines langen, schweren Umhangs und hieb ihn in zwei Teile. Den einen gab er dem Bettler, der sein Glück noch gar nicht richtig fassen konnte, den anderen schlug er sich selbst um die Schultern, steckte sein Schwert weg und ritt davon.

 

 

Im Jahr 372 wünschten sich die Bürger der Stadt Tours, dass Martinus ihr Bischof werden möge. Doch der meinte, er wäre dieses hohen Amtes nicht würdig. Man erzählt sich, er hätte sich in einem Gänsestall versteckt, damit man ihn nicht wählen könne. Aber die Gänse hätten so laut geschnattert, dass die Leute ihn sofort fanden. In einer anderen Geschichte wird erzählt, nur ein guter Freund hätte von dem Versteck gewusst. Den Einwohnern der Stadt verraten wollte er es nicht. Aber er erzählte Martinus von einer schwerkranken Frau, die ihn unbedingt sprechen wollte. Eine solche Bitte konnte Martinus nicht abweisen. Also kam er aus seinem Versteck und wurde von den Bürgern Tours' zum Bischof gewählt.

 

 

Martin, inzwischen Martin von Tour, starb am 8. Novemver 397 im Alter von 81 Jahren. Die ganze Stadt trauerte um ihn und gab ihm am 11. November das letzte Geleit. Da man nach alter Tradition in vielen Gegenden am 11. November den Tag feierte, an dem alle Arbeiten des Herbstes, das Einholen der Ernte und Verarbeiten der Früchte, erledigt ist und der Winter beginnt, hat man den Martinstag später nicht auf den Todestag sondern auf das Datum seines Begräbnisses gelegt.

 

 

Inzwischen wurde die Laterne in meiner Hand immer schwerer. Wenige Schritte neben mir stiegen plötzlich kleine Rauchkringelchen aus einer Laterne empor. Dann züngelten kleine Flammen über deb Rand der Laterne hinweg. Ein Mann kam angesprungen und riss dem Mädchen die Laterne aus der Hand, warf die brennende Laterne auf den Boden und trat die Flammen aus ... und die Reste der Laterne platt. Das Mädchen war erst ganz still und fing dann an, laut zu weinen. Eine Mama drückte sich durch die Menge und nahm das Mädchen tröstend in den Arm. Ich hielt meine Laterne gleich noch fester. Die letzten Worte des Martins habe ich nicht mehr so richtig mitbekommen. Als ich wieder zu ihm schaute, scharrte sein Pferd unruhig mit dem Vorderhuf. Irgendwo rief jemand, alle Kinder sollen sich in eine Schlange stellen. Alle rannten los. Ich konnte gar nichts mehr sehen. Nur lauter Menschen um mich herum. Jemand stieß an meine Laterne. Wo war nur meine Mama? "Komm, jetzt machen wir deine Laterne lieber aus, oder?", sagte plötzlich jemand ganz dicht hinter mir. Ich drehte mich um. "Mama!" Vor Erleichterung kullerte mir eine Träne über die Wange. Aber nur eine klitzekleine. Ich glaube, im Dunkeln konnte sie niemand sehen. Nun nahm meine Mama meine Laterne in die eine und mich an die andere Hand. So führte sie mich sicher durch das Gedränge, bis wir an ein kleines Tischchen kamen. Dort saß eine runde Frau mit runden Bäckchen, runden Augen und einer kunterbunten Strickmütze. "Na du hast aber eine besonders schöne Laterne! Die hast du doch nicht etwa selbst gemacht?!", sagte sie zu mir. "Doch, fast ganz alleine!", dachte ich und nickte stolz, während sie mir eine kleine Pappschale entgegenhielt, auf die lauter Martinsgänse geklebt waren. In dem Schälchen lagen ein leuchtend roter Apfel, ein Martinshörnchen und ein paar Plätzchen. "Wie sagt man?", fragte hinter mir meine Mama, als ich das Schälchen entgegennahm. "Danke!", hauchte ich. Ich war glücklich und sehr, sehr müde. "Trägst du mich?", fragte ich meine Mama. "Na, komm schon her, mein kleiner Laternenträger!", sagte sie und nahm mich auf ihren Arm, wo ich augenblicklich einschlief.

 

 

 

 

 

Illustration Martinsgans, Heiliger Martin auf seinem Pferd und mit Bettler, Martins Gans
Erinnerungen an meinen ersten Martinsumzug