Abenteuer Martinsumzug
wie mein Opa einem meiner Kunstwerke zur Vollendung verhalf und ich mich für ein Backrezept fast k.o. schlagen ließ
In diesem Jahr fällt der Martinstag auf einen Montag. Das ganze Wochenende habe ich noch an meiner Laterne gebastelt. Schaut her, hier könnt Ihr sie sehen:
Ist sie nicht wunderschön? Ich bin riesig stolz auf mein Werk! Es war aber auch ein steiniger Weg, den ich dafür die letzten Tage gehen musste! Gestern noch - um genau diese Uhrzeit - saß ich mit klopfendem Herz und schweißnasser Stirn an meinem Schreibtisch, die Finger voller Klebstoff, eine ganze Sammlung ruinierter Teelichter neben mir, während meine Mama schon zum dritten Mal ihren Kopf zur Tür reinstreckte und fragte, ob ich denn endlich meine Schultasche gepackt und mich fürs Zubettgehen fertiggemacht hätte. Hatte ich natürlich nicht! Aber alles der Reihe nach...
Eigentlich war ich mit der Vorbereitung dieses Mal sehr vorbildlich. Vorletztes Wochenende habe ich mir ein paar Tipps und Bastelanleitungen für Laternen rausgesucht. Für meinen Favoriten
brauchte man auch nicht viel Material - nur einen Luftballon, etwas Pergament-, Seiden- oder Serviettenpapier, Tapetenkleister, etwas Basteldraht und natürlich ein Stöckchen zum Tragen, Teelicht
und Farben zum Bemalen. Über die Woche habe ich all die Dinge besorgt und ein halbes Skizzenbuch mit Ideen fürs Bemalen gefüllt.
Am Samstagmorgen wollte ich mit dem Basteln beginnen. Doch da machte mir meine Mama einen Strich durch die Rechnung. Oder das "schöne Herbstwetter", das ich unbedingt nutzen sollte, um endlich
mal mein Rad zu schnappen und in unser kleines Gärtchen zu fahren, um noch vor Winterbeginn, wie schon soooo lange versprochen, ein paar Sachen heimzuholen, damit sie dort in den kommenden
Monaten nicht verrotten. Trotz größter Bemühungen konnte ich mich kein weiteres Mal rausreden. Also stieg ich auf mein Radel und erledigte, was zu erldigen war.
Wieder zu Hause angekommen, hatte ich trotz des "schönen Herbstwetters" Hände wie aus Eis. Bei meinen ersten Versuchen, meinen Luftballon mit den Papierschnipseln zu bekleben, landeten letztere
überall, nur nicht auf dem Ballon. Als dann endlich, endlich die Hände wieder wärmer wurden und das Gefühl bis in die Fingerspitzen zurückkehrte, alle Papierfitzelchen in etwa dort waren, wo sie
hingehörten, ohne dass es zu viele Kolateralschäden gegeben hätte, war es schon später Nachmittag. Voller Ungeduld saß ich, alle 10 Minuten vorsichtig die Oberfläche abtastend, neben meinem
Laternen-Ballon und wartete darauf, dass der Klebstoff endlich trocken wäre, damit ich mit dem Bemalen beginnen könnte. Aber irgendwie hatte sich anscheinend die ganze Welt gegen mich
verschworen. Ich hab noch nie zuvor einen so langsam trocknenden Klebstoff erlebt!
Mit dem Bemalen musste ich natürlich bis zum Sonntag warten. Nun aber! Voller Freude machte ich mich ans Werk. Und endlich schien auch ein freundlicherer gesinnter Geist über meinem Vorhaben zu
schweben. Schon ohne Kerzenschein wirkten die Farben wunderbar auf dem Pergament- und Seidenpapier! Sie leuchteten viel mehr als auf richtigem Papier und hatten gleichzeitig etwas samtig Weiches
an sich. Und ich verliebte mich sofort in die auf so ungewöhnliche Art ineinander verlaufenden Farbübergänge. Ich zog gerade meinen letzten Pinselstrich, als meine Mama zum Abendessen rief.
Geschafft! Naja, fast! Die Kerze würde ich nach dem Essen noch schnell befestigen. Dann Ranzen packen, hoffentlich dabei keinen verdrängten Eintrag im Aufgabenheft finden und ab ins Bett. Doch
ganz so lief es natürlich nicht. Die Bastelanleitung gab keine Idee her, wie man die Kerze befestigen sollte. Das war mir bis dahin noch gar nicht aufgefallen. Einfach nur auf den Boden stellen,
funktionierte nicht. Da stand sie immer irgendwie schräg und rutschte ständig hin und her. Ankleben hielt nicht. Anwachsen genauso wenig. Dabei knickte mir nur beim Andrücken die Laterne ein.
Genau am Pferd des Heiligen Martins! Mir standen die Tränen in den Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Was sollte ich denn jetzt nur tun? Am Montag habe ich immer lange Schule und danach noch
Musikunterricht. Da blieb auch keine Zeit mehr. Ich konnte doch nicht OHNE Kerze zum Martinsumzug gehen! Und das, wo ich doch eine soooo schöne Laterne hatte! Ich wollte sie doch leuchten sehen!
Und ich wollte, dass auch meine Freunde sie leuchten sehen! Und meine Oma und mein Opa! Bei ihnen war ich vor einigen Tagen noch gewesen, um ihre beiden Gänse zu zeichnen, als Skizzen für meine
Martinsgans auf der Laterne. … Oma und Opa! Das ist es! Wenn niemand mehr Rat weiß! ... Ich griff zu meinem Handy. Viele gleichmäßige schnelle Herzschläge lang hatte ich nur das gleichmäßige
langsame Tuten des Telefons im Ohr. Dann endlich die Stimme meines Opas. "Hallo!?" "Opa!!! Es ist wegen meiner Laterne! Die Kerze! Ich weiß nicht, wie ich sie festmachen soll! Und eigentlich soll
ich schon lange ins Bett! Und morgen ist auch keine Zeit mehr! Und ..." "Jetzt mal ganz langsam!", unterbrach mich mein Opa, ruhig wie immer. Und irgendwie ging es mir gleich ein bisschen besser.
Und dann ließ er mich noch einmal einzählen, was in der Bastelanleitung steht, was ich schon ausprobiert habe, was nicht funktioniert hat. Während ich berichtete, tauchte schon wieder der Kopf
meiner Mama im Türspalt auf. "Ist Opa!", erklärte ich schnell, bevor sie etwas sagen konnte. Sie schaute etwas zweifelnd auf mich, zog einmal ihre Augenbrauen hoch, sodass ihre großen blauen
Augen noch größer wurden, fast wie zwei große Seen, an deren Nordufer sich im selben Moment ein großes Faltengebirge auftürmte, jedoch auch sofort wieder in sich zusammenstürzte und einem
leichten Lächeln am gegenüberliegenden Ufer der nun nicht mehr ganz so riesigen Seen Platz machte. Dieses unglaubliche geologische Wunder spielte sich in Bruchteilen einer Sekunde ab. Dann war
der Kopfplanet, auf dem das alles stattfand, wieder hinter der angelehnten Tür verschwunden. Und meine Aufmerksamkeit war wieder voll und ganz auf meinen Opa gerichtet. "... Knete?", hörte ich
ihn gerade fragen. "Was?" "Hast du es schon mit Knete versucht? Du hast doch Knete, oder?" "Äh, ja, ich denke schon.", antwortet ich etwas unsicher, während ich schon in meiner Bastelkiste kramte
und tatsächlich noch zwei ungeöffnete Stangen Knete hervorzauberte. "Also, ich würde davon reichlich auf den Boden geben und dann einfach das Teelicht reindrücken. Dann wird auch die Laterne
unten etwas schwerer und schwankt vielleicht nicht ganz so schnell, wenn jemand davorstößt oder es ein klein wenig windig ist." Inzwischen hatte ich meinen Opa in Form meines Handys neben mich
gelegt und knetete eifrig mit beiden Händen meine Knetwürschte weich. Mir schmerzten schon Finger und Handgelenke, während die eine Handfläche allmählich grün und die andere blau wurde. Natürlich
nur von der Farbe der Knete! Bald war die Masse weich genug, um eine große daraus Kugel zu formen - erst grün-blau gestreift, dann nach und nach ins Türkis übergehend. Während ich diesen
swimmingpoolfarbenden Ball vorsichtig auf den Boden meiner Laterne drückte, hörte ich aus dem Lautsprecher des Telefons meine Großeltern beratschlagen, was man sonst noch probieren könnte, falls
das mit der Knete nicht klappen sollte. Spätestens jetzt fiel die letzte Anspannung von mir. Ich wusste, sie würden so lange überlegen, bis wir eine Lösung gefunden hätten! Niemand würde mich ins
Bett schicken, bevor meine Laterne nicht fertig wäre! Und morgen beim Umzug würde mein Lichtlein brennen und meine kleinen Malereien für alle sichtbar zum Leuchten bringen! Ein ganzes Gebirge,
ähnlich dem auf der Stirn meiner Mama, fiel von meinen Schultern. Ich habe einfach die besten Großeltern auf der ganzen Welt!
Und während ich spürte, wie sich in mir Erleichterung und wohlige Wärme ausbreiteten, nahm ich ein weiteres Teelicht aus der Tüte auf meinem Schreibtisch und drückte es sanft in das weiche
türkisfarbene Knetemeer am Boden meiner Laterne. Fast wie ein kleines Schifflein in die wogenden Wellen, tauchte mein kleines Teelicht in die weiche Knetmasse ein. Ganz leicht nur - aber das
reichte vollkommen, um ihm ausreichend Halt zu geben. Noch konnte ich es gar nicht richtig glauben! Vorsichtig ruckelte ich noch einmal ein wenig an dem Kerzlein. "Es hält!", hörte ich mich
jubilieren. Und dann das vertraute Lachen meiner Großeltern. "Mama, Papa, es hä-ääääält!", schrie ich jetzt durch die ganze Wohnung. Und da kam auch schon meine Mama ins Zimmer gelaufen. Ich ließ
meine Laterne stehen und sprang ihr in die Arme, um sie ganz fest an mich zu drücken. Nun kam auch noch mein Papa verschlafen ins Zimmer geschlurft. Er war mal wieder vor dem Fernseher
eingeschlafen, und ich habe ihn mit meinem Geschrei aus seinen Träumen gerissen. "Hm!", brummelte er anerkennend, während er mein Kunstwerk aus zwei Meter Abstand mit leicht schief gelegtem Kopf
von oben herab begutachtet. Mehr konnte man um diese Uhrzeit von ihm nicht erwarten. Das war schon fast, als hätte er mich für den Nobelpreis vorgeschlagen. "Jetzt aber schnell ins Bett!", sagte
meine Mama und gab mir lächelnd einen leichten Klapps auf den Po, der mich wohl in Richtung Badezimmer dirigieren sollte. Geradeso konnte ich mir noch mein Telefon angeln. "Es hält, es hält!",
rief ich noch einmal direkt ins Telefon. "Daaaaaanke! Ihr habt mich gerettet! Ihr kommt doch morgen, oder?" "Natürlich kommen wir! Wir wollen doch auf keinen Fall die Einweihung Deiner Laterne
verpassen! Aber nun ins Bett mit Dir! Eh Mama ärgerlich wird oder du morgen im Unterricht vor Müdigkeit unter die Bank rutschst!"
Bevor ich kurze Zeit später unter meine Decke schlüpfte, stellte ich die Laterne so aufs Fensterbrett, dass ich sie vom Bett aus gut sehen konnte. Den Kopf auf dem weichen Kissen betrachtete ich
sie noch einige Minuten lang und stellte mir vor, wie ich am folgenden Abend das Kerzlein anzünden würde, in welch leuchtender Farbenpracht dann meine Bilder ... Doch dann fielen mir die Augen
zu.
Der Schultag zog sich ewig lang. Vom Musikunterricht bekam ich nicht viel mit - außer, dass mein Lehrer etwas verzweifelt über mich war. Aber an diesem Tag war das alles nicht so wichtig. "Ich
glaub, das hat hier heute sowieso keinen Zweck mehr", hörte ich schließlich aus weiter Ferne meinen Lehrer sagen, während sein kleiner abgegriffener Bleistiftstummel abwechselnd Kringel auf
einige Notenblätter und kraklige Buchstaben in mein Aufgabenheft malte. Erleichtert sprang ich auf, schlüpfte in meine Jacke, packte meine sieben Sachen zusammen und stürmte zur Tür hinaus.
Inzwischen haben wir späten Abend. Meine Mama hat schon wieder zweimal ihren Kopf zur Tür reingestreckt und gefragt, ob ich schon meine Schulsachen gepackt hätte. Seit fast einer Stunde schreibe
ich mit schon wieder eisiger und fast tauber Hand meine Erlebnisse nieder. So langsam taue ich wieder auf. Es war ein schon fast winterlich kalter aber wunderschöner Abend! Beim Einsteigen in die
Straßenbahn gab es noch einen kleinen Schreckensmoment, als sich an einer Haltestelle plötzlich so viele Menschen in die Bahn drängten, dass ich in dem Eck, in dem ich stand, fast erdrückt wurde
... und mit mir meine arme Laterne! Voller Angst, riss ich sie so weit in die Luft, wie ich nur konnte, in der Hoffnung, dass dort oben etwas mehr Platz und etwas weniger Gefahr vorherrschen
würden. Ein großer breitschultriger Mann direkt neben mir bemerkte meine Not. "Nun passen Sie doch ein bisschen auf!", rief er einigen der sich hereinschiebenden Leute zu und stellte sich
schützend vor mich. Zwei Haltestellen später konnte ich mit meiner heilen Laterne in der einen und meiner ebenso heilen Mama in der anderen Hand aus der Bahn springen. Und da sah ich auch schon
die ersten anderen Kinder, die stolz ihre noch dunklen Laternen zum Treffpunkt trugen.
Und dann kam der Moment, an dem ich endlich meine Kerze anzünden durfte. Dreimal ging das Feuerzeug aus, bevor der Docht zu brennen begann. Dann, endlich, drang ein warmer, gleichmäßiger, nur
leicht flackender gelblicher Schein durch die kleine Bildergalerie auf den Wänden meiner Laterne. Glücklich strahlend betrachtet ich diese kleine magische Martinsgeschichtenwelt, die dort in
diesem Augenblick zum Leben erwachte. Dann riefen mich die Stimmen um mich herum in meine Welt zurück. Überall leuchteten jetzt bunte Laternen, und es wurden immer mehr.
Dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Und von da an war es einfach nur eine Riesenflut von Eindrücken. Es wurde wieder viel gesungen. Ganz toll fand ich, dass der Papa von Johannes in diesem Jahr seine Gitarre mit dabei hatte. Er kann wunderbar spielen und kennt ganze Liederbücher auswendig! Der Heilige Martin ritt in diesem Jahr ein silbrig-blau schimmerndes Pferd mit riesigen Nüstern und dem schönsten Pferdebart, den ich je gesehen habe. Das Martinsfeuer spieh seine Funken weit in den klaren Nachthimmel hinein, die großen Stämme knackten und dufteten würzig nach Wald. Etwas abseits stand ein großes Feuerwehrauto. Zwei Feuerwehrmänner waren auf das Dach geklettert und guckten uns von dort oben zu. Einer von ihnen hatte sogar seinen noch ganz kleinen Sohn dabei, der eine winzige Feuerwehruniform trug. Dafür hatte er keine Laterne. Neben mir lief ein Papa mit seinem Sohn auf den Schultern. Dieser Papa hatte auch keine Laterne, und obwohl sein Sohn ihm mit seiner den Weg leuchtete, hatte der Papa ständig Angst, er würde zu wenig sehen. Erst leuchtete er mit seinem Handy den Weg ab, und als schließlich der Akku schlappmachte, besorgte er sich tatsächlich irgendwo eine große Taschenlampe! Einige Kinder hatten ganz lustige selbstgebastelte Laternen, die aussahen wie kleine Männchen - mit richtigen Armen und Beinen aus Ziehharmonikaschlangen dran und einem Kopf aus Pappmaché!
Die Zeit verging wie im Flug. Plötzlich standen schon die Eltern mit den kleinen Körbchen bereit, die wir Kinder mit Martinsgänsen verziert und vergangene Woche leer abgegeben hatten. Nun bekam jeder ein gefülltes Körbchen zurück, aber natürlich nicht das eigene! Es war lustig, nun die anderen Gänse in den Händen zu halten. Gerne hätte ich gewusst, wer meine Gänse bekommen hat. So verschieden jedoch all die Gänse waren, ihre Bäuche waren allesamt gefüllt mit einem Apfel, Nüssen, verschiedenen winzigen Packungen mit Süßigkeiten und einem der Höhepunkte dieses Tages: dem Martinshörnchen! Seit Wochen liege ich meiner Mama in den Ohren, sie solle doch auch mal Martinshörnchen backen. Gefühlt das halbe Internet haben wir nach Rezepten durchforstet. Aber keines machte Hoffnung, dass am Ende ein Martinshörnchen rauskommen könnte, das auch nur entfernt Ähnlichkeit mit den Martinshörnchen unseres Martinsumzugsbäckers haben könnte. Als ich nun dieses duftig lockende Hörnchen aus meinem Gänsekörbchen lugen sah, nahm ich all meinen Mut zusammen, drückte das Körbchen und meine Laterne fest an mich und schlängelte mich zwischen den vielen Menschen hindurch bis hin zu dem kleinen, etwas zerkratzt und verbeulten Lieferwagen des Bäckers. Der saß zwischen ein paar leeren Kunststoffstiegen im offenen Kofferraum seines Wagens und plauderte lachend mit einem schnauzbärtigen Mann, der einen ähnlich kullrigen Bauch hatte wie der Bäcker selbst. Langsam, Schritt für Schritt, schob ich mich näher an die beiden ran und wusste nicht so recht, wie ich es anstellen sollte. Am liebsten wäre ich wieder umgekehrt. Aber ein Blick auf mein Martinshörnchen ließ mich diesen Gedanken gleich wieder verwerfen. Ich ging noch einen Schritt näher an den riesigen, dicken Bäcker ran, der gerade in diesem Augenblick in schallendes Gelächter ausbrach. Brüllend vor Lachen warf er seinen Kopf in den Nacken und riss dabei den Mund so weit auf, als ob er statt im Kofferraum seines Wagens auf dem Zahnarztstuhl säße. Sein Bauch hüpfte rhythmisch auf und ab. Mit der einen Hand hielt er den einen Oberschenkel, während er mit der anderen immer wieder auf den zweiten Oberschenkel klopfte. Der Schnauzbart sagte noch etwas, der Bäcker jaulte lachend auf und bebte nun am ganzen Körper. Plötzlich hörte die bis dahin klopfende Hand auf zu klopfen und begann, sich zu einem übermütigen Höhenflug in die Lüfte zu erheben. Weit kam sie jedoch nicht. Nach wenigen Zentimetern schlug sie mit voller Kraft vor meine Brust und ich daraufhin ein paar Zentimeter mehr weiter hinten und unten zu Boden. 'Meine Laterne!', war mein erster Gedanke. Die Kerze war erloschen, so wie das Lachen im Gesicht des Bäckers. Meine Laterne jedoch hat den Sturz zum Glück unbeschadet überstanden. Meinem Gänslein hat es einen kleinen Halsknick versetzt. Aber das würde ich zu Hause ganz bestimmt reparieren können. Allerdings hat das Gänslein auch seinen ganzen Mageninhalt auf die Straße gespuckt. Da lag es nun, das goldbraune Martinshörnchen mit seiner Haube aus Zuckerguss und kleinen knackigen Nusstückchen! Irgendwie war das jetzt alles zu viel. Ich wußte nicht, ob ich erleichtert und glücklich oder traurig sein sollte. Außerdem war mir kalt und ich war müde und es war mir hier alles zu laut und zu voll. Ich wollte nur noch heim. "Hast du dir wehgetan?", fragte mich der Bäcker jetzt. Stumm schüttelte ich den Kopf. Und nun rannen doch ein paar Tränen über meine Wangen. Tränen der Erschöpfung, Tränen des gerade erst langsam aus meinen Knochen weichenden Schrecks, Tränen, die ich um mein verlorenes Martinshörnchen vergoss. "Aber warum weinst du dann?" "Ist doch alles nicht so schlimm, oder?" "Wo ist denn deine Mama?" "Hey, weiß jemand, zu wem der junge Mann hier gehört?" Inzwischen guckten alle Leute im Umkreis von 10 Metern auf mich, und alle riefen durcheinander. Ich wurde vom Boden gehoben und neben dem Bäcker im Kofferraum wieder abgesetzt. Hier war es wenigstens ein klein bisschen weniger kalt. Trotzdem wollte ich endlich nach Hause! Nach Hause, mit meiner Laterne und dem Rezept für echte Martinshörnchen! "Dem Rezept für ECHTE Martinshörnchen?!", prustete der Bäcker und fing schon wieder an zu beben. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich das laut gesagt habe. "Na du bist mir vielleicht ein Held! Wagst dich in die Schlacht und steckst hier Prügel ein für das Rezept für echte Martinshörnchen?! Wenn meine Lehrlinge nur mal halb so viel Einsatz zeigen würden wie du, würd ich als Dank einmal im Jahr jedem Bewohner der Stadt ein Martinshorn spendiern! Ganz im Ernst! Kein Quatsch! So viel Heldenmut muss doch belohnt werden, nicht wahr, Ronny?" Er wandte sich immer noch lachend dem Schnauzbart zu. "Na, auf jeden Fall!", stimmte dieser zu. Sie spaßten und witzelten und lachten, hauten einander auf die Schultern und ich dachte schon, sie hätten mich vergessen. Doch plötzlich schob sich jemand einen Korridor durch die Menschenmenge, die immer noch um uns herum stand. Und hinter diesem Jemand durch den Korridor kam meine Mama auf mich zu, hob mich hoch, bis ich auf dem Boden des Kofferraums zum Stehen kam, behauchte und rubbelte meine eiskalten Hände, drückte mich an sich und überschüttete mich mit tröstender Mamaliebe. Hinter ihr wie ein aus einem Märchen entlaufener gutmütiger Riese - der Bäcker. "Sie sind also die Mama dieses kleinen Helden?" Und dann erzählte er kurz von unserer heftigen Begegnung und drückte ihr mit ein paar Erklärungen einen großen Zettel in die Hand. Das Rezept! Ich strahlte vor Glück! Kälte, Müdigkeit und alles Leid waren vergessen. Plötzlich gab es nur noch die vielen schönen Momente des Abends. Trotzdem hatte ich nichts dagegen, dass mich meine Mama bis zum Auto von Oma und Opa trug, die uns, die Heizung voll aufgedreht, auch gleich nach Hause fuhren. Im warmen Heim angekommen, legte meine Mama zuerst meine Laterne auf das Flurschränkchen, daneben die leicht lädierte Martinsgans und den Zettel mit dem hart erkämpften Rezept. Und dann stellte sie noch eine große Bäckertüte daneben – gefüllt bis zum Rand mit ECHTEN Martinshörnchen!
Die Martinshörnchen haben übrigens eine lange Geschichte. Schon lange, bevor Martin von Tours, dem wir am Martinstag gedenken, lebte, auch lange, bevor es überhaupt das Christentum gab, haben Menschen ihren Göttern Opfergaben in Form von halbmondförmigem Gebäck gebracht. Die Form eines Horns stand symbolisch für Ziegen, Rinder und andere Haustiere mit solch gebogenen Hörnern, die für die damalige Bauerngesellschaft meist den größten Wert ihres Besitzes darstellten. Anstatt eine Kuh zu schlachten und den Göttern zu überlassen, buk man also lieber Teighörner, aus denen dann mit den Jahrhunderten und Jahrtausenden solche leckeren Dinge wie Kipferln, Croissants und Martinshörnchen wurden.
Da der Heilige Martin dafür bekannt war und auch dafür verehrt wird, dass er das Wenige, was er besaß, großherzig mit Menschen teilte, die noch viel weniger besaßen als er, fand irgendwann das Verteilen von kleinen Leckereien Einzug in das Martinsfest. Einige Menschen meinen, das Martinshörnchen hätte seine Form erhalten, weil es etwas Ähnliches sei, etwas von seinem Besitz den Göttern zu opfern oder mit seinen Mitmenschen zu teilen. Andere sagen, die Martinshörnchen wären eigentlich keine Hörnchen sondern Hufeisen. Man erzählt sich, einst hätte das Pferd Martin von Tours am Stadttor von Amiens, einer Stadt in Südfrankreich, in welcher er als berittener Soldat der Kaiserlichen Garde stationiert war, ein Hufeisen verloren. Die Menschen von Amiens seien die ersten gewesen, die in Gedenken an Martin von Tours Hufeisen aus Teig gebacken hätten. Wieder andere Menschen sehen in der Form eher eine halbe Brezel, ein Symbol für den Mantel, den Martin von Tours mit dem frierenden Mann am Straßenrand geteilt hat, und für das Teilen allgemein.
Es gibt einige Länder, in denen der Martinstag gefeiert wird. Die Traditionen sind oft ähnlich aber selten ganz die gleichen. In den Niederlanden zum Beispiel ziehen die Kinder an Sint Maarten von Haus zu Haus und bitten um kleine Gaben, also meistens Gebäck, Bonbons und andere Süßigkeiten.
Das Rezept für die leckeren Martinshörnchen, wie wir sie hier bei uns vom dicken lachenden Bäcker bekommen, findet Ihr übrigens hier:
Und wie ich meine tolle Laterne gebastelt habe, erzähle ich Euch hier: